Eine deutsche Familiengeschichte
Name: Beerenhain. Ingke stapfte über den Krankenhausflur, und der Name auf dem Formular verschwamm vor ihren Augen. Das war sie, Ingke Beerenhain. Beerenhain wie der Name des Gutes, von dem ihre Familie stammte. Seit ein paar Minuten wusste sie, dass das Lug und Trug war. Sie war keine Beerenhain, sondern eine Schröder. Ihre schokoladenbraunen Augen schwammen in Tränen, als sie so schnell wie möglich dem Aufzug zustrebte. Glücklicherweise war niemand in der Kabine, als sie einstieg. Sie strich sich die dunklen Locken von ihren nassen Wangen.
Die ganze Beerenhainfamilie hatte ovale Gesichter, blaue oder zumindest helle Augen und mehr oder weniger sandblondes Haar, eine Farbe wie der karge Boden im nördlichen Brandenburg, woher sie stammte. Nur ihre Mutter Maren, die nicht ihre Mutter war, wie Ingke nun wusste, war ein brünetter Typ. Und die Beerenhains waren alle groß und schlank, Maren zierlich. Sie dagegen knuffig. Ein Körper, in dem sie sich oft ein wenig fremd fühlte. Kämpferisch wischte sie die Tränen weg. Sie hatte jedenfalls viel schönere Hände als alle Beerenhains zusammen. Weich und rund, mit ovalen Fingernägeln. Und einen Kirschmund hatte sie auch. Einen schönen Mund hatte höchstens noch Rosa, Onkel Pauls Tochter, von wem auch immer.
An diesem Vormittag hatte sie sich mit ihrem Arbeitsbuch fürs Matheabitur in den Krankenhauskomplex in Berlin-Buch begeben, in dem ihre Eltern arbeiteten. Ihr Vater im Städtischen Klinikum, ihre Mutter in der Robert-Rössle-Klinik, in der sie jetzt auch lag. Maren Berenhain war an Leukämie erkrankt und brauchte dringend eine Stammzellenspende. Einen Spender zu finden war nicht einfach, aber Familienangehörige kamen infrage. Und deshalb wollte Ingke spenden und hatte sich gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag testen lassen. Ihre Eltern waren dagegen gewesen. Dieses Verfahren sei noch recht neu, man wisse noch nicht ausreichend, welche Schädigungen Spender davontrügen, und überhaupt sei das wegen des Abiturs jetzt keine gute Idee. Aber ihre Mutter hing zwischen Leben und Tod, und es fand sich einfach kein geeigneter Spender. Und da sollte sie gemütlich Abitur machen?
Vor einer Stunde war Ingke im Labortrakt der Robert-Rössle-Klinik eingetroffen. Ein strammer jovialer Mann im Kittel hatte sie begrüßt. „Na, da wollen wir mal sehen. Sie können stolz auf sich sein, dass Sie Ihrer Mutter das Leben retten wollen“ , sagte er und wies auf den Besucherstuhl. Dann zog er ihre Testergebnisse aus einem Umschlag und verglich sie mit denen aus der Patientenakte ihrer Mutter. Er blätterte und zog die Augenbrauen zusammen. Und blätterte und schwieg. Dann atmete er tief ein, entließ die Luft mit flappenden Lippen und sah sie an.
„Entschuldigen Sie, dass ich das frage, aber haben Sie nicht mit Ihren Eltern vorher darüber gesprochen? Die sind ja Ärzte hier und wissen, dass so ein Test sehr teuer ist …“
„Nein“ , sagte Ingke und fügte spitz hinzu: „Das musste ich ja wohl auch nicht.“
Er gab ein unwirsches „Ach“ von sich. „Schon bei Blutsverwandten ist die Trefferquote sehr klein. Aber in Ihrem Fall ist das wie Lotto.“
Er klang vorwurfsvoll, als hätte sie sich hier eingeschmuggelt und ihm umsonst Arbeit gemacht. „Wie bitte?“ , sagte Ingke verwirrt und musste erst einmal einen Augenblick nachdenken. Wieso war das bei ihr „wie Lotto“ ? Bockig sagte sie: „Seit wann ist eine Mutter nicht blutsverwandt mit ihrer Tochter.“ Sie beugte sich vor und tippte mehrmals auf den Nachnamen Beerenhain bei Maren und sich selbst.
Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn des Strammen. Er zuckte vor Ingkes Zeigefinger zurück. „Oh. Das hätte ich jetzt nicht … Ich rufe Dr. Beerenhain an.“
Das musste es sein. Ihr Vater hatte irgendwas manipuliert, damit sie „in Ruhe“ ihr Abitur ablegen konnte.
„Ja, machen Sie das“ , sagte Ingke patzig. Sie war schließlich achtzehn, und ihr Vater hatte ihr nicht zu sagen, ob sie für ihre Mutter Stammzellen spendete oder nicht. Dann lehnte sie sich zurück und sagte gar nichts mehr.
Zwanzig Minuten später betrat ihr Vater das Zimmer. Er hielt die Thermoskanne mit dem Melissentee aus Beerenhain in der Hand, den er sich jeden Tag zur Arbeit mitnahm.
„Ingke“ , sagte er atemlos und winkte den Laborangestellten mit den Augen aus dem Raum, der ganz offensichtlich froh war, dass er wegkam.
Dann setzte Kelle Beerenhain sich seiner Tochter gegenüber, goss den Becher voll und schob ihn ihr hin.
„Du spinnst wohl“ , sagte sie. „Woher wusstest du überhaupt, dass ich mich habe testen lassen? Das dürfen die dir doch gar nicht sagen, oder?“
„Das haben sie mir auch nicht gesagt.“
Er sprach leise, klang müde. Dann verstummte er, legte die linke Hand auf Ingkes Testergebnis, die rechte auf Marens Krankenakte und senkte den Kopf. Ingke starrte ihn an. Sie bemerkte zum ersten Mal, dass sein aschblondes Haar schon fast weiß war. Sie hatte im Vergleich zu ihren Mitschülern alte Eltern. Ihre Mutter war Mitte dreißig gewesen, als sie Ingke bekommen hatte, ihr Vater schon fast vierzig.
Das Schweigen tat seine Wirkung. Ingke begriff, dass ihr Vater seine Finger nicht im Befund gehabt hatte. Und das wiederum bedeutete, dass der Test entweder falsch war oder ihre Mutter nicht ihre Mutter. Und dass der Becher Tee vor ihr stand, sagte ihr, dass die zweite der beiden Varianten die richtige war. Ihr Vater hatte ihr etwas Ernstes mitzuteilen.
Ingke schob den Becher über den Tisch zurück, und ihr Vater sah auf. Er lächelte dünn und nahm einen Schluck.
„Maren ist nicht deine leibliche Mutter. Und ich bin nicht dein leiblicher Vater.“
Ingkes Schultern sackten herab.
„Wir haben dich adoptiert, als du noch ein Baby warst. Maren konnte keine Kinder kriegen. Sie hat als junges Mädchen mal eine Eierstockentzündung gehabt, ihre Eileiter sind verklebt.“
Ingke horchte auf. „Spielt sie deswegen im Winter immer so verrückt, dass ich ja nicht ohne Unterhemd rausgehen soll?“
„Wohl schon“ , sagte Kelle.
„Aber warum habt ihr mir das nie gesagt?“ , fragte Ingke. Vermutlich hatte ihre Mutter jedes Mal, wenn sie Terz machte, weil Ingke nicht warm genug angezogen war, daran gedacht, dass sie adoptiert war. Und hatte es verschwiegen und verschwiegen und verschwiegen.
„Zuerst warst du zu klein.“ Ihr Vater rieb sich über die Stirn und lächelte sie an. „Du warst so ein süßes Baby!“
Ingke schlug ärgerlich mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Entschuldige“ , sagte ihr Vater. „Aber das warst du. Wir waren und sind überglücklich, dass wir so eine wunderbare Tochter haben.“
„Und wessen Tochter bin ich nun wirklich?“
Ihr Vater, der nicht ihr Vater war, nahm einen Schluck Tee. „Geboren hat dich eine Frau namens Petra Schröder. In deiner Abstammungsurkunde ist der Vater als unbekannt verzeichnet. Du warst noch nicht mal ein Jahr, als sie mit dir in den Westen flüchten wollte. Sie kam ins Gefängnis, und du in ein Heim. Und dann haben wir dich adoptiert. Du bist wirklich und richtig unsere Tochter.“
„Und was ist aus meiner echten Mutter geworden?“ Ingke konnte es nicht fassen. Sie war ihrer Mutter Petra weggenommen worden, einfach so.
Ihr Vater zuckte mit den Schultern.
„Ihr habt nie nachgeforscht?“
„Nein.“
Ein Tonfall voller Unschuld, registrierte Ingke, und ihre Wut loderte empor. „Vermutlich habt ihr, so tiefrot wie ihr gewesen seid, auch noch gedacht, es geschieht dieser Asozialen recht, die sich erdreistet hat, aus eurer tollen DDR verschwinden zu wollen.“
Sie musste an die Luft. Kurz schoss ihr durch den Kopf, dass Onkel Paul auch immer „an die frische Luft“ musste, wenn er nachdenken oder ein Problem lösen wollte. Paul Beerenhain, nicht mein Onkel, korrigierte sie sich im Stillen. Sie merkte, wie ihr die Tränen kamen.
„Kelle, ich geh jetzt“ , blaffte sie und sprach ihren Vater das erste Mal in ihrem Leben mit seinem Rufnamen an. „Ihr habt mich mein ganzes Leben lang hintergangen.“ Als sie im Aufspringen eine Handbewegung machte, mit der sie ihm das ganze Gespräch vor die Brust wischen wollte, kippte die Thermoskanne um und der Beerenhainer Melissentee über Kelles Kittel. Ingke kümmerte sich nicht darum.
„Soll Maren doch verrecken.“ Damit rauschte sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu, weil sie den Schreck spüren wollte, der ihr bei jedem Türenknallen durch Mark und Bein fuhr.
Jetzt, Minuten später, stand Ingke vor der Klinik und wusste nicht wohin. Bloß weg, war das Einzige, was sie denken konnte, nicht dass der Herr Chirurg Dr. Kelle Beerenhain ihr noch hinterherkam. Sie eilte zu ihrem Fahrrad. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihr Herz stach, und das kam nicht vom Rennen. Als sie ihr Fahrrad aufschloss, fühlte ihr Leib sich leer an, als wäre Ingke Beerenhain nicht mehr da.
„Und sonst gibt es niemanden, der ich ist“ , flüsterte sie. Ingke Schröder war ein Phantom, mehr nicht. Ein ausradiertes Kind. Sie musste weg. Zu einer Freundin wollte sie aber nicht. Irgendwie war diese Nachricht zu viel für alle Freundinnen, die sie hatte. Sie hatte schon immer Probleme damit gehabt, sich ihren Schulkameradinnen anzuvertrauen, wenn ihr etwas naheging. Wenn die dann was Falsches sagten, fühlte sie sich sofort fremd, und das Ganze endete mit gekränktem In-die-Bettdecke-Wickeln in ihrem Zimmer.
Jetzt trat sie so fest in die Pedalen, dass sie nur wenige Minuten bis zu ihrem Einfamilienhaus brauchte. Während sie ihr Rad in der Garage mehr an die Wand schmiss als stellte, fasste sie einen Entschluss. Sie würde ein paar Sachen zusammenpacken und zu Rosa fahren, der Tochter von Onkel Paul, der ein Jahr älter als der 1934 geborene Kelle war. Kelle und Paul Beerenhain waren zwar eigentlich Cousins, aber eher brüderlich verbunden, deshalb war Rosa so etwas wie eine Cousine für sie. Rosa würde sie garantiert aufnehmen. Und zwar ohne schwierige Fragen zu stellen.
„Soll sie doch sterben! Ich will sie nie wiedersehen“ , rief Ingke schon auf der Treppe zu Rosas Wohnung in einem Altbau im Prenzlauer Berg. In diesem Haus wohnte sie schon ewig. Zuerst im Seitenflügel und jetzt, mit Ende zwanzig, mit ihrem Mann Peter in einer großen Wohnung im Vorderhaus. Das Stockwerk war auch dasselbe geblieben, das vierte.
„Hallo wütende Wespe, schön, dass du gekommen bist“ , begrüßte Rosa sie und fing sie an der Tür in ihren Armen ein.
Ingke, vom Treppenrennen und vor Zorn außer Atem, machte sich erst steif, aber dann spürte sie Rosas Wärme und ihren gerundeten Bauch, und da schluchzte sie auf. Diesmal kamen die Tränen richtig. Es waren keine trotzigen Tropfen, sondern ein stetiger Strom, der alles mitnahm, bis auf die Verzweiflung. Die wusch er aus, dass es erst so richtig wehtat.
Rosa nahm Ingke ihre große Reisetasche ab und bugsierte das Mädchen ins Wohnzimmer auf das Sofa am Fenster. Auch sie hatte Beerenhainer Kräutertee gekocht, aber nicht einfach Melisse, sondern irgendeine bittere Mischung.
Ingke hatte am Telefon erzählt, dass sie adoptiert worden war. Rosa kommandierte „Beine hoch!“ , breitete eine warme, selbstgewebte Decke über Ingke und stopfte sie um das Mädchen herum fest. Sie selbst setzte sich Ingke gegenüber in einen Sessel, steckte sich ein Kissen in den Rücken und goss ein. Allerdings nur Ingke, sie hatte schon was in der Tasse.
Ingke trank Schlückchen für Schlückchen, und langsam ließen ihr Zittern und Schluchzen nach.
Rosa sagte: „Ich habe Kelle Bescheid gesagt, dass du herkommst.“ Als Ingke erschrocken aufblickte, hob Rosa die Hand. „Und er wird nicht hier erscheinen, keine Sorge.“
Ingke nickte. Das war okay, sie wollte ja nicht gesucht werden. Sie tat Honig in den Tee. Beerenhainer Honig natürlich, was sonst. Rosas Vater Paul wohnte dort, in dem alten Gutshaus der Familie. Mit seiner Mutter Emma, die früher noch eine richtige Gutsherrin gewesen war, und seiner Frau Hanna. Paul arbeitete in einer Biokooperative, die aus der LPG Morgenröte hervorgegangen war, die Kelle und Paul als ganz junge Männer mitgegründet hatten.
Rosa zupfte ihr knallrotes Schwangerenshirt zurecht, das eng saß und dessen Vorderteil in den Seitennähten angekräuselt war. Bestimmt hat sie es selbst genäht, dachte Ingke, die es wunderbar knallig fand. Rosa war Modedesignerin und wusste ihren kleinen Babybauch optisch zu feiern. Sie ließ sich nun genauer berichten, was geschehen war. „Petra Schröder heißt deine Mutter?“ , fragte sie am Schluss nach.
Ingke nickte.
„Hmm“ , machte Rosa. „Bei Oma war öfter eine Ingrid Schröder zu Gast, als ich noch klein war. Und die hatte eine Tochter. Aber wie die hieß, weiß ich nicht. Ich habe mich nie besonders für Omas Pensionsgäste interessiert.“
Emma hatte drei Zimmer in dem großen Haus als Gastzimmer hergerichtet, eines ihrer finanziellen Standbeine, die anderen waren ihre Schafherde und ihre Tätigkeit als Imkerin. Das Gutshaus lag an einem See, und Familien mit kleineren Kindern oder alte Leute kamen gern dorthin.
Ingke merkte, dass sie auf einmal ganz müde wurde. Sie stellte ihre Tasse ab. Wer weiß, was für einen Beruhigungstee Rosa da zusammengebraut hat, dachte sie bei sich. Der Tee in Rosas Tasse hatte verdächtigerweise eine andere Farbe als ihrer.
„Na ja, der Name Schröder ist nicht gerade selten“ , sagte Rosa.
Ingke zuckte mit den Schultern. Draußen war es dunkel geworden, nur eine ganz schmale Mondsichel war zu sehen.
„Ich mag den Mond so am liebsten. Besonders wenn es die zunehmende Sichel ist“ , sagte Rosa, die Ingkes Blick aus dem Fenster gefolgt war.
„Woran siehst du das?“ , fragte Ingke.
„Dann ist die Rundung da, wo das alte deutsche z wie zunehmend gerundet ist – im Gegensatz zum abnehmenden Mond, der links gebogen ist wie das kleine A.“
Ingke schwieg.
„Vati hat mir das beigebracht, und der hat es von Oma. Ich werde es meinem Kind beibringen.“
Jetzt musste Ingke zum ersten Mal lächeln, und sie fühlte, wie sich ihr Gesicht dabei entspannte. Sie schaute auf Rosas Bäuchlein.
„Ist das Familie?“ , fragte sie. „Also dass man so was weitererzählen will, meine ich.“
Rosa nickte. „Ich glaube schon. Ja, das ist Familie.“
„Und was noch?“ , fragte Ingke.
Rosa kniff die Augen zusammen. Nach einer Weile sagte sie: „Dass Ernst zu mir gehalten hat. Das ganz bestimmt.“
Sie nahm das Kissen hinter ihrem Rücken weg und zog die Schultern nach hinten. Offensichtlich war das lange Sitzen unbequem für sie. Ernst war ihr Zwillingsbruder, und wann auch immer er zu ihr gehalten hatte, es musste etwas Besonderes gewesen sein. Denn Ernst und Rosa hielten eigentlich stets zusammen wie Pech und Schwefel.
„Wenn du wissen willst, was Familie ist, musst du zu Ernst. Frag ihn nach Marie. Die Geschichte mit Marie hat uns auf die Probe gestellt. Aber jetzt lass uns erst mal schlafen gehen.“
Vielleicht ist das tatsächlich eine gute Idee, dachte Ingke, wenn man auf einmal gar nicht mehr weiß, wer man ist und wo man hingehört, andere zu fragen. Herauszufinden, was für sie eigentlich das Entscheidende ist, was sie zu denen macht, die sie sind. Sie zupfte an ihrer Decke. „Dein Entwurfstalent hast du von Tante Emma geerbt, stimmt’s?“
Rosa nickte mehrmals und strahlte. Ingke wusste, dass Rosa ihre Großmutter sehr mochte. Sie selbst fand, dass die vornehme Emma irgendwie etwas Unnahbares hatte. Als ihre eigene Omi Lisbeth, Kelles Mutter und Emmas Schwägerin, noch lebte, hatte sie sich in Beerenhain meistens an sie gehalten.
„Was ich wohl geerbt habe? Ob ich es je erfahren werde?“ Ingke gähnte. Die Mondsichel war inzwischen hinter einer Wolke verschwunden. „Ist schon ein Hammer, dass die nichts erzählt haben, oder?“ , fragte sie.
Rosa strich sich über ihren Bauch. „Wenn Peter und mir was zustößt und unser Kind zu anderen Eltern kommt, würde ich mir wünschen, dass es weiß, dass es uns gab.“ Dann stockte sie. „Oder? Ist das egoistisch? Ist solch ein Wissen nicht auch ein Fluch? Das arme Kind, warum sollte man es damit quälen.“ Sie seufzte. „Ach, ich weiß nicht. Komm, wir ziehen das Sofa aus und gehen schlafen.“
Rosa stand auf und streckte sich. Jetzt als Schwangere wirkte sie noch majestätischer als sonst, denn sie hatte nicht nur die stolze gerade Haltung der Beerenhains, sondern auch kräftige Schultern. Sie würde, selbst wenn der Bauch dicker wurde, niemals wie ein Fass aussehen, dachte Ingke – im Gegensatz zu ihr selbst, falls sie jemals Kinder bekommen sollte, sie war ja ohne Babybauch schon rund.
Jetzt rappelte sie sich auf, und dann richtete sie einträchtig mit Rosa ihr Bett her.
In der Nacht schreckte Ingke auf. Ihr Schlaf-T-Shirt klebte an ihrer Haut. Sie hatte wieder ihren Geistergeheul-Traum geträumt, den sie seit ihrer Kindheit immer wieder träumte. Als sie kleiner gewesen war, hatte sie danach immer schrecklich weinen müssen, und ihre Mutter hatte sie getröstet und sich die restliche Nacht zu ihr gelegt. In diesem Traum war es dunkel. An ihr Ohr drang ein Heulen, erst leise, dann immer lauter. Dann knallte es, und dann fiel sie, fiel und fiel in ein grundloses Nirgends. Davon wachte sie jedes Mal auf. Und der Traum lag ihr auf der Seele wie ein Nachtmahr.
Auch jetzt dauerte es lange, bis Ingke wieder einschlafen konnte, und als sie am nächsten Morgen erwachte, waren Rosa und Peter, der erst spätabends nach Hause gekommen sein musste, schon weg. Aber es lag ein Zettel auf dem Küchentisch.
Liebe Ingke, habe Ernst angerufen. Er weiß Bescheid, und wenn du Lust hast, trifft er sich heute Abend mit dir. Brombeermarmelade ist im Kühlschrank.
Bastei Lübbe, Köln 2021
© Ulla Mothes
Roman: Geteilte Träume
Video-Lesung
Roman: Geteilte Träume
Video-Interview mit Ulla Mothes
Und je tiefer sie kam, desto gleißender wurde der Himmel, und das war noch nie so gewesen.
[ Seiltänzerin mittendrin ]
Eine deutsche Familiengeschichte
Köln, 2021
Bastei Lübbe
ISBN: 978-3-7857-2729-4
Berlin, 1992: Erst als junge Frau erfährt Ingke, dass sie als Säugling zu DDR-Zeiten adoptiert wurde. Wer sind ihre wahren Eltern? Warum haben sie sie einst weggegeben? Und was bedeutet das für ihr Leben heute? Sie macht sich auf die Suche und stößt auf die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie, die nach einem gescheiterten Fluchtversuch ihre Tochter verlor. Auf einmal hat die junge Frau zwei Familien, die um sie ringen: Ihre leibliche Mutter, die irgendwann von der BRD freigekauft wurde und sich seither nie mehr gemeldet hat. Und ihre vermeintlichen Eltern, bei denen sie behütet und geliebt aufgewachsen ist. Doch muss sie sich tatsächlich entscheiden?
Mitglieder ihrer Adoptiv- und leiblichen Familie haben an vielen historischen Schaltstellen der deutschen Nachkriegsgeschichte Entscheidungen treffen müssen, die sich auf ihre Nächsten schicksalhaft ausgewirkt haben. Sie erzählen Ingke davon. So führt ihre Suche nach dem, was Familie ist, tief in die Geschichte der deutschen Teilung seit 1945.
Mit dem Roman „Geteilte Träume“ durfte ich mir einen Herzenswunsch erfüllen. Ich möchte einen Beitrag zum Einigungsprozess leisten. Dazu ist eine DDR-Familiensaga 60 Jahre nach Mauerbau ein tolles Transportmittel. Ich kann das Bestreben aufleben lassen, eine neue, eine fortschrittliche Gesellschaft aufzubauen, das der Gründung der DDR zugrunde lag und heute fast vergessen ist. Es ist im Kalten Krieg gescheitert, aber im Denken vieler blieb es erhalten. Es bereichert unser geeintes Land – und auch diesen Roman, in dem es neben Flucht und Repression den Traum von gleichberechtigter Teilhabe gibt, den viele Menschen heute teilen.
Ulla Mothes
Ulla Mothes